So sieht die Antike in den sozialen Netzwerken aus

1886 verließ Vincent van Gogh die Antwerpener Kunstakademie. Denn er war nicht zufrieden mit der Art und Weise, wie dort Kunst gelehrt wurde. Nach antiken Skulpturen sollte gezeichnet werden, ein Unterfangen, das er zwar beherrschte, aber keinesfalls befürwortete. Daher ließ er sich Verfremdungen einfallen, etwa wenn er in seiner Zeichnung „Venus in einem Zylinder“ der antiken Dame einen schwarzen Zylinder überstülpte. Ein Akt der Ermächtigung.

Vincent von Gogh: Venus in einem Zylinder, 1886
Vincent von Gogh: Venus in einem Zylinder, 1886

Van Goghs Abschied von der Akademie ist einer der ersten Höhepunkte „[eines] lange[n] Abschied[s] des Klassizismus“. So die Überschrift des Kapitels, unter der Walter Grasskamp die Geschichte der Marginalisierung antiker Skulpturen im Zuge der Moderne subsumiert (1). In seinem Buch „Ist die Moderne eine Epoche?“ stellt er das Schicksal der Abgusssammlung als ein „Kabinettstück in der Karriere der Moderne“ (2) dar und erzählt am Beispiel der Akademie der bildenden Künste in München die Geschichte einer Verbannung, Zerstörung und Abdankung der klassischen Antike als universales Vorbild. Konnte das Ansehen der Abgusssammlungen im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert – insbesondere im Umfeld des Klassizismus und seit Winckelmann 1755 seine „Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst“ veröffentlichte – größer kaum sein, stellte sich bereits in den 1850er Jahren ein Werteverlust der antiken Gipsabgüsse ein, die dem anti-akademischen Zeitgeist der frühen Moderne veraltet erschienen. „Schon 1853 hatte John Ruskin den paralysierenden Charakter des Antikenstudiums beklagt“, bemerkt Grasskamp (3).

Aus: „Ist die Moderne eine Epoche?“, Seite 76/77. Grasskamp weist darauf hin, dass die Marginalisierung der antiken Gipsabdrücke auch von archäologischer und kunstwissenschaftlicher Seite vorangetrieben wurde. So stellte man fest, dass die originalen Skulpturen nie weiß gewesen sind - wodurch sie nur noch als Fragmente wahrgenommen werden konnten und das Selbstbewusstsein der modernen Kunst weniger schmälten. Die Kunstgeschichte relativierte wiederum die Sonderstellung der Antike, indem sie begann, methodisch zur Gleichbehandlung aller Epochen tendiert. Dadurch wurde die Schlüsselfrage des Klassizismus - ob es ein überzeitliches Schönheitsideal gibt - hinfällig.
Aus: „Ist die Moderne eine Epoche?“, Seite 76/77. Grasskamp weist darauf hin, dass die Marginalisierung der antiken Gipsabgüsse auch von archäologischer und kunstwissenschaftlicher Seite vorangetrieben wurde. So stellte man fest, dass die originalen Skulpturen nie weiß gewesen sind – wodurch sie nur noch als Fragmente wahrgenommen werden konnten und das Selbstbewusstsein der modernen Kunst weniger schmälerten. Die Kunstgeschichte relativierte wiederum die Sonderstellung der Antike, indem sie begann, methodisch zur Gleichbehandlung aller Epochen zu tendieren. Dadurch wurde die Schlüsselfrage des Klassizismus – ob es ein überzeitliches Schönheitsideal gibt – hinfällig.

Zusehend werden die Abdrücke in die dunklen Ecken der Akademien verbannt, oder – wie im Beispiel der Münchner Akademie – in die Gänge. 1935 bemerkt Picasso in einem Interview: „Der akademische Unterricht über die Schönheit ist falsch. Man hat uns getäuscht […]. Die Schönheiten des Parthenon, die Venusse, die Nymphen, die Narzisse sind solche Lügen“. (4) Die Wertschätzung sinkt besonders in der Nachkriegszeit. Sie hat „den Abgüssen des Rest gegeben“, so Grasskamp (5). Bedurfte es vor dem 2. Weltkrieg noch eines Gegenspielers, damit sich die Moderne positionieren und eigene Entwürfe unterbreiten konnte, war die Nachkriegsmoderne auch ohne eine Bestimmung ihres Verhältnisses zur Antike ausgekommen. Im Zuge der ’68er Revolte wurden schließlich die letzten übrig gebliebenen Abgüsse beschmiert und zerstört. Eine Zeichensetzung, mit der man sich gegen die damals gültigen Bildungsideologien wendete.

Doch anstatt gänzlich aus der Welt der Kunst zu verschwinden, wird die antike Skulptur zu einem ihrer beliebtesten Motive – sei es in den Gemälden von Giorgio de Chirico oder René Magritte, den Werken von Ian Hamilton Finlay oder in den unzähligen Bildern der Gegenwart, die in den sozialen Netzwerken kursieren. Dass die antike Skulptur zu einem reinen Motiv avanciert ist – das höchstens noch auf die Atmosphäre von Hochkultur verweist – wird dadurch ersichtlich, dass sie noch immer fast ausschließlich weiß dargestellt wird. Und damit offensichtlich jeder komplexere (Farb-)Diskurs ihrer Geschichte gemieden wird.

Wirft man einen Blick auf die vielfältigen Umgangsformen mit dem Motiv der antiken Skulptur in den sozialen Netzwerken, so fällt schnell auf, dass sie – sei es bewusst oder versehentlich – an die Techniken der modernen und nachkriegsmodernen Kunst erinnern. So werden die antiken Skulpturen in kontrastreiche Kontexte versetzt, kommentiert, collagiert, entthront und beschmiert.
Zur Veranschaulichung folgt eine Typologie anhand ihrer berühmten Vorbilder, die im Grunde gar keine sind. Denn tatsächlich haben die Bilder in den sozialen Netzwerken nicht nur die Skulptur zum Motiv, sondern mit ihr auch die verschiedenen Techniken der Moderne. Deren avantgardistischer Umgang mit den Traditionen der Hochkultur sind in gegenwärtigen – und oftmals nicht-künstlerischen – Adaptionen längst nicht mehr einer politischen Motivation geschuldet, sondern reines Sujet.

 

1. Kommentieren – Barbara Kruger

Barbara Kruger: Untitled (Your gaze hits the side of my face), 1981
Barbara Kruger: Untitled (Your gaze hits the side of my face), 1981

Barbara Krugers Fotocollage „Untitled (Your gaze hits the side of my face)“ von 1981 zeigt ein Frauengesicht im Profil, das als weiße Statue dargestellt ist. Verleiht ihr das steinerne Antlitz – das durch die Referenz zur antiken Skulptur entsteht – zunächst eine gewisse Ausdruckslosigkeit, verändert sich das Aussehen des Gesichts beim Lesen der auf das Bild geklebten Beschriftung. Die Methode eines Interpretierens von Gesichtsausrdücken mittels sprachlicher Kommentare ist auch ein beliebtes Verfahren von den Nutzern sozialer Netzwerke. Anders als bei der komplexen Arbeit von Kruger, laufen die meisten Bild-Text-Collagen auf Tumblr und Co. jedoch lediglich auf eine Pointe hinaus.

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Mit Beschriftungen werden Mimik und Gestik der Skulpturen interpretiert.

2. Bekleiden – René Magritte und Giorgio de Chirico

Links: René Magritte: Die tiefen Gewässer, 1941; rechts: Giorgio de Chirico: Porträt von Guillaume Apollinaire, 1914

Links: René Magritte: Die tiefen Gewässer, 1941; rechts: Giorgio de Chirico: Porträt von Guillaume Apollinaire, 1914

Nicht nur Äpfel, Rosen oder Wolken, sondern auch die antikisierende Skulptur sind sowohl im Werk von René Magritte als auch in zahlreichen Bildern in den sozialen Netzwerken auffindbar. Schon an anderer Stelle auf sofrischsogut wurde die Verwandtschaft von Magrittes Bildsprache zu jener der gegenwärtigen Internet-Kultur analysiert. Doch auch Giorgio De Chirico bietet sich zum Vergleich an. Beide Künstler haben innerhalb ihres eigenen Werkes Originalitätsansprüche abgelegt, indem sie Motive immer wieder neu inszeniert und variiert haben. Ein solches Motiv war bei beiden auch die Skulptur. Zogen sie einer antik anmutenden Büste einen Mantel an oder setzten ihr eine Sonnenbrille auf, dann waren sie wieder sehr nah bei dem heutigen Umgang mit der Skulptur.

Heute werden Skulpturen geschminkt, mit Schmuck behangen, gemästet oder tätowiert.
Heute werden Skulpturen geschminkt, mit Schmuck behangen, gemästet oder tätowiert. Der Kontrast verstärkt sich, sind die Skulpturen bereits als Meisterwerke klassifiziert und bekannt – etwa bei Michelangelos „David“.

 

3. Experimentieren – Man Ray

Man Ray, Still life composition for "Minotaure", 1933
Man Ray, Still life composition for „Minotaure“, 1933

Wie Magritte oder de Chirico steht auch Man Ray in der Tradition des Surrealismus und erzeugte durch die Kombination von absurden und sonst nicht miteinander assoziierten Gegenständen eine geheimnisvolle Bedeutung, die es jedoch nicht aufzulösen galt. Die Zusammenstellungen waren – und sind es auch heute in den sozialen Netzwerken wieder – sehr experimentell, wodurch immer weitere Variationen denkbar sind. Das macht die Bilder Man Rays so inspirierend – und die Skulpturen-Stillleben in den sozialen Netzwerken zu Kick-Off-Bildern. Das heißt zu Bildern, die andere Nutzer zu neuen Inszenierungen anregen.

Surreale Stillleben mit antiken Büsten in den sozialen Netzwerken.
Surreale Stillleben mit antiken Büsten in den sozialen Netzwerken.

 

4. Beschmieren – Avantgarde

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Erdgeschossflur des Ostflügels der Münchner Kunstakademie während der „Verwaltungsbarrikade“ 1969 (Foto: Branco Senjor) – via Walter Grasskamp, „Ist die Moderne eine Epoche?“, S. 92.

Die Avantgarde zeichnet sich durch den radikalen Bruch mit dem Alten, den bestehenden politischen Verhältnissen wie ästhetischen Normen aus. Bis heute verbindet sich mit ihr eine besondere Radikalität, die etwa in München 1969 zu ikonoklastischen Handlungen – dem Beschmieren und der Zerstörung von Abgüssen der Akademie – geführt hat. Gegenwärtig hat der ikonoklastische Gestus vielmehr selbst einen ästhetischen Wert – wird zu einer Technik, die als Motiv gedeutet werden kann und mit der sich keine politische Motivation mehr verbindet.

Ikonoklasmus als Schönheitseingriff.
Ikonoklasmus als Schönheitseingriff.

 

5. Skulpturen küssen – Pygmalion-Paraphrasen

Links: Jean-Léon Gérôme:Pygmalion and Galatea, 1890; mittig: Edouard Antoine Marsal : Satyre et Bacchante, 1887; rechts: Catrin Bolt: Embracing Statues, 1999
Links: Jean-Léon Gérôme:Pygmalion and Galatea, 1890; mittig: Edouard Antoine Marsal : Satyre et Bacchante, 1887; rechts: Catrin Bolt: Embracing Statues, 1999

Die Macht der Illusionskraft von Bildern und Skulpturen wurde wohl nirgends so anschaulich geschildert wie in der Geschichte des Pygmalion. Pygmalion ist Bildhauer und erschafft eine Statue aus Elfenbein, die aussieht wie eine lebendige Frau. Zunehmend wird sie auch so von ihm behandelt, bis er sich am Ende sogar in seine Kunstfigur verliebt. Auf die Bitten Pygmalions bei der Göttin Venus, er möge doch eine Frau kennenlernen, die seiner Statue ähnlich sei, wird letztere durch einen seiner Küsse lebendig. Eine Idee, die immer wieder neu aufgenommen und adaptiert wurde. Etwa von Edouard Antoine Marsal, der einen trunkenen alten Mann (= Satyr) im Museum glauben lässt, die Büste sei seine Mänade. Und auch Catrin Bolt spielt auf den Pygmalion-Topos an, wenn sie sich mit Skulpturen des öffentlichen Raumes inszeniert. Doch handelt es sich bei ihr nicht mehr um einen Diskurs über antike Skulpturen, sondern um das gegenwärtige Distanzverhältnis zu ehedem bekannten Protagonisten der Kulturgeschichte. Um die Überwindung einer Distanz zu den Figuren geht es in gewisser Weise auch, wenn sich die Nutzer sozialer Netzwerke in ihren Bildern küssend mit Skulpturen zeigen. Nur ist der Unterton hier viel ironischer.

Innige Momente werden inszeniert: küssend mit Skulpturen.
Innige Momente werden inszeniert: küssend mit Skulpturen.

 

6. Kontinuität der Zeiten – Ian Hamilton Finlay

Ian Hamilton Finlay: Man With Panzerschreck, 1993
Ian Hamilton Finlay: Man With Panzerschreck, 1993

Mit der antiken Skulptur hat sich lange die Frage verbunden, ob es ein Schönheitsideal gibt, das sich über alle Zeiten hinweg als gültig erweist. Auch Ian Hamilton Finlay interessiert sich in seiner Arbeit für Kontinuitäten über die Epochen hinweg,  etwa wenn er das Motiv der antiken Skulptur mit einem Panzerschreck konfrontiert. Doch das Grundprinzip, das Finlay hier herausarbeitet, ist gerade nicht das Schönheitsideal. Schönheit ist nur die Tarnung des eigentlich immer Herrschenden: Gewalt.
Wenn in den Bildern der sozialen Netzwerke antike Skulpturen mit neuen Technologien in Verbindung gebracht werden, dann meistens deshalb, weil eine bestimmte Mimik oder Gestik zufällig an den heutigen Umgang – etwa mit Handys – erinnert. Dadurch tritt eine gewisse körperliche Kontinuität zu Tage, wenngleich die Motivation für das Foto im Effekt der Verlebendigung begründet liegen mag.

Die Konfrontation antiker Skulpturen mit neuen Technologien in den sozialen Netzwerken
Die Konfrontation antiker Skulpturen mit neuen Technologien in den sozialen Netzwerken

 

7. Transzendenz – Edgar Ende

Edgar Ende, Fragmente, 1936
Edgar Ende, Fragmente, 1936

Über die Arbeitsweise seines Vaters in den Münchner Jahren schrieb Michael Ende: „E. zog sich in ein verdunkeltes Zimmer zurück und wartete auf die Bilder, die aus dem Dunkel vor seinem inneren Auge erschienen. Diese Bilder hielt er mit einem beleuchteten, eigens konstruierten Bleistift fest.“(6) Ganz ähnlich stellt man sich die Macher von Vaporwave-Collagen vor, in ihren dunklen Zimmern sitzend, einzig vom Lichtkegel des Computers erhellt. Schwerelosigkeit und Überzeitlichkeit dürften gemeinsame Themen gewesen sein, die gerade in der Vapowave-Szene immer wieder durch antike oder antikisierende Skulpturen ausgedrückt wird. Doch während Ende den Vorstoß ins Unbekannte anstrebt, seine Bilder Engel und Dämonen zeigen, sind die Gegenstände der Vaporwave-Collagen vielmehr private Mythologien und ein nostalgisches Gedenken an die Anfangszeit der Internet-Kultur.

Die antike Skulptur in Vaporwave-Collagen.
Die antike Skulptur in Vaporwave-Collagen.

(1)  Walter Grasskamp: Ist die Moderne eine Epoche? Verlag C.H. Beck: München 2002. S. 63-117.

(2) Ebd. S. 64.

(3) Ebd. S. 74.

(4) zit. nach Grasskamp, S. 96.

(5) Ebd. S. 85.

(6) Gerhard Habarta (Hrsg.): Lexikon der phantastischen Künstler. Palais Palffy: Wien 2013. S. 152.

Hier geht es zu einem Tumblr-Blog mit weiteren Bildbeispielen.

Eine Antwort zu „So sieht die Antike in den sozialen Netzwerken aus”.

  1. you only live twice

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