Über gute und schlechte Lügen
- annekathrin kohout
- 29. Okt. 2017
- 6 Min. Lesezeit
● Zum Hören: Podcast unter dem Text ●
Ich habe mich kürzlich erwischt. Dabei, eine kleine Notlüge formulieren zu wollen. Nicht, dass so etwas niemals vorkäme. Aber, ich will ganz ehrlich sein, normalerweise erwische ich mich nicht dabei. Kleine Notlügen sind ein natürliches Manövrieren im Gefecht der Wahrheiten anderer. Und noch mehr: ihrer Gefühle. Nun aber, wo ich, wie viele andere auch, mein Leben auf Instagram, Tumblr, Facebook und Twitter teile, bleibt nur noch wenig Spielraum für kleine Notlügen: Und das obwohl der Online-Auftritt eine Konstruktion ist, nicht die Wirklichkeit. Wenn ich auf Tumblr ein Foto eines blauen Flecks hochlade, ruft meine Mutti gleich an und fragt, ob es mir gut geht. Manchmal hatte ich einen Unfall, manchmal nicht. Wenn ich sage, dass ich irgendwo bin oder irgendwo hinwill, gibt es immer jemanden, der schreibt: Schick mal ein Bild. Da kann man nicht mehr lügen, das würde zu weit gehen: Bildmanipulation (Ich kenne allerdings Leute, die sowas schon gemacht haben). Wenn ich jemanden heimlich im Internet stalke, seine Insta Stories oder Snaps ansehe (oder sogar einen Screenshot mache), wird das dem Beteiligten angezeigt. Wie peinlich sich das anfühlt, wenn man sich erst im Nachhinein an diesen Vorgang erinnert. Dazu kommt es aber immer seltener, weil mein Verhalten durch diese Mechanismen immer kontrollierter wird, immer formierter.
Die steigende Transparenz gibt Sicherheit, das aber auf Kosten einer der wichtigsten sozialen Techniken schlechthin: der Lüge. Wenn hier von Lügen die Rede ist, meine ich nicht solche, die anderen schaden, dem Betrug dienen oder ähnliches. Ich meine Lügen aus Höflichkeit, wenn man ‚Danke‘ sagt, ohne ‚Danke‘ zu meinen. Und ich meine die vielen kleinen Notlügen des Alltags. Was nämlich oft vergessen wird: Kleine Notlügen können große Konflikte verhindern. Etwas nicht zu wissen, beispielsweise weil ich es nicht erzählt habe (=Notlüge), kann für den anderen ein Segen sein. Niemand möchte all das, was über ihn gedacht oder gesagt wird, wirklich wissen. Keiner will hören: „Ich habe keine Lust auf Dich“, sondern lieber „Ich habe keine Zeit.“ Natürlich ist das eine häufig nicht vom anderen zu trennen, etwa, wenn man keine Lust hat, weil man nicht so viel Zeit hat. Eine Dimension der Transparenz insbesondere in den sozialen Netzwerken, ist auch, sich ständig äußern und bekennen zu müssen, insofern sogar das, was verschwiegen wird, schon als Lüge gilt. Personen des öffentlichen Lebens, haben sich ja immer schon verdächtig gemacht, wenn sie sich zu bestimmten Themen nicht geäußert haben. Aber jetzt ist fast jeder eine Person des öffentlichen Lebens, auf eine Art, oder zumindest in der Selbstwahrnehmung. So werden Wahrheiten zu Lügen, die keine sind.
Der Hass auf die Lüge und die Sehnsucht nach der Wahrheit
Es gibt eine unglaublich große Angst vor und einen ausgeprägten Hass auf die Lüge und folglich eine Sehnsucht nach der Wahrheit. Das zeigt sich in diversen journalistischen Beitragstiteln (Bsp.: „Was das Frausein wirklich bedeutet“), in der Forderung der Abschaffung von retuschierten Bildern (die Getty Images kürzlich auch durchgesetzt hat), in dem Meme „Instagram VS. Real Life“ und vielem mehr. Sie verdichtet sich allerdings in dem Begriff der „Fake News“, sowohl in jener Debatte um tatsächliche Falschnachrichten, etwa über einen Anschlag, den es nie gegeben hat; oder jener besonders lautstark von Donald Trump angeführten Debatte, um die vermeintlich einseitige Darstellung des Weltgeschehens durch eine intellektuelle Elite. Woher kommt die Angst vor der Lüge und die Sehnsucht nach der Wahrheit?
Sie ergibt sich aus dem Umgang mit der digitalisierten Lebenswelt. In der Semiotik spricht man von Index, wenn ein Zeichen – im Gegensatz zu den sogenannten echten Zeichen, wie dem Ikon oder Symbol – einen zeitlichen und räumlichen Bezug zu seinem Referenten hat, als Beispiel wird meist Rauch angeführt, der das Zeichen für Feuer ist. Diese physische Kausalität existiert im Digitalen nicht. Und wie sich die Möglichkeiten, in eine Fotografie wirklichkeitsverfälschend einzugreifen, durch die Digitalisierung um ein Vielfaches vereinfacht und erhöht haben, gilt dies natürlich auch für jedes andere Medium und überhaupt jede Existenz im Netz. Während in der Anfangszeit deswegen eine Trennung von analogem und digitalem Raum meistens absichtlich gekennzeichnet wurde, etwa durch die Verwendung von Nicknames oder den Verweis auf das ‚Real Life‘ durch die Abkürzung ‚IRL‘ – die in den 1990er Jahren noch als vorübergehender Verweis von einem Gespräch („Talk to me IRL“) verwendet wurde, heute signifikanter Weise als Humor –, ist dies seit einigen Jahren nicht mehr der Fall, was die Skepsis erhöht. Eine Skepsis, die aus der eigenen und natürlichen Erfahrung heraus entsteht, dass Verheimlichen und Lügen im Internet so viel einfacher sind, als wenn man sich im selben Raum befindet und in die Augen sieht.
Was stört an Fake News?
Ich meine jetzt jene Fake News, die im Deutschen mit „Lügenpresse“ angeprangert werden. Was stört an den Lügen der Presse? Er wird immer wieder in dem Kontext zitiert, ist aber so wichtig, dass auch ich ihn nochmal aufgreife: Harry Frankfurter mit seinem 1986 erstmals publizierten Essay „On Bullshit“. Darin macht er eine Unterscheidung von Lügen und Bullshit und die feine Beobachtung, dass das, von dem sich die Menschen provoziert und angegriffen fühlen, (insbesondere im Kontext der Medien) gar nicht die Lüge, sondern der Bullshit ist. Mit Bullshit meint er Geschwafel, das Verschleiern von eigentlichen Themen, ein Reden, ohne dass man wirklich etwas sagt. Bullshit will unmittelbar und manchmal spektakulär wirken und nimmt dabei die Wahrheit nicht ernst. Lügen hingegen setzen, so Frankfurter, bei einer konkreten Wahrheit an. Etwas, das auch schon bei Nietzsche zu finden ist, in dem berühmten Zitat: „Wer nicht lügen kann, weiß nicht, was Wahrheit ist.“ In „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne“ von 1873 stellt er fest, das Sprache kein Fundament der Wahrheit sein kann. Und wir wissen heute, nach dem Poststrukturalismus, dass auch Bilder und jedes andere Zeichensystem kein Fundament der Wahrheit sein können, dass es Wahrheit nicht gibt, außer als bedeutende Technik und Konstruktion des Zusammenlebens in Form des Rechts oder als Machtstrategie. Die wissentlich niemals einzulösende Forderung nach der Wahrheit muss also überwunden werden. Wie das praktisch aussieht? Indem man gutgemeinte Lügen, in welcher Gestalt auch immer – Retusche, Opportunismus, Höflichkeit – nicht generell ablehnt, sondern sie im Gegenteil kultiviert.
Wie es nicht eine gültige Wahrheit gibt, gibt es auch umgekehrt nicht in jeder Thematik eine gültige Lüge im Sinne der Falschaussage. Lügen, wenn sie nicht böswillig sind oder die Öffentlichkeit bewusst täuschen wollen (um die geht es hier nicht), sollte man wirklich nicht unter Generalverdacht stellen und schon gar nicht versuchen, sie abzuschaffen. Gelogen wird aus so vielen Gründen, meistens aus Höflichkeit! Aber auch aus Scham oder Angst oder aus Unsicherheit. Man kann auch aus Spaß lügen. Lügen dient in den allermeisten Fällen sogar dem Schutz. Dem Schutz von sich selbst oder vor sich selbst – eigenen Gefühlen –, aber auch dem Schutz anderer. Und das ist nirgends so brauchbar wie im Netz.
Um die Bedingungen für das Lügen steht es also in zweierlei Hinsicht schlecht bestellt, einerseits weil sie per se verurteilt und ihnen ihre positiven Eigenschaften aberkannt werden. Und andererseits, weil es mit steigender Transparenz immer schwieriger wird, auch nur ein wenig zu lügen. Da ich mir nicht vorstellen kann, dass sich diese Entwicklung umkehren lässt, bleibt vorerst nur: ein gekonnter Umgang mit den sozialen Medien, mit nutzerdefinierten Einstellungen (Abschalten von Lesebestätigung, Einfluss auf Personalisierung durch bewusstes falschen Klicken etc.) und Nachsicht. Und Toleranz, natürlich Toleranz. Nachsicht aber auch, wenn eine Lüge auffliegt. Das ist schwer, insbesondere dann, wenn Lüge einzig Thema von Moral und Moral wiederum ein zentrales Bedürfnis und Anliegen ist. Und das scheint es für Viele zu sein. Zumindest legen das die gegenwärtigen Diskussionen habituell nahe, ebenso wie das Sprechen von einer Hypermoral.
Lügen gelten als moralisch verwerflich, aber umgekehrt gilt das Moralische nie als Lüge. In den Massen- und Mainstreammedien würde man beispielsweise den unzähligen #MeToo-Geschichten niemals unterstellen, sie seien gelogen oder verfälscht. Und wenn man erführe, dass es so sei, würde man doch eher Milde walten lassen – und das ist gut so! Das ist die erwähnte Nachsicht.
Ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen als eine Welt, in der alle Menschen immer ehrlich sind. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es eine größere Kränkung geben könnte, als all das zu erfahren, was andere denken und fühlen. Es wäre eine weitaus stärkere Kränkung, als die Erkenntnis, dass die Erde nicht der Mittelpunkt der Welt ist, oder dass wir Menschen von Tieren abstammen, oder dass wir nicht Herr im eigenen Haus sind, sondern gesteuert vom Unbewussten.
Nein, wir wollen nicht alles ganz genau wissen. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass das im kleinen, persönlichen, privaten Bereich für jeden gilt. Da dieser Bereich sich aber immer mehr ins Internet verlagert und damit öffentlicher wird, etwa durch Kampagnen wie #MeToo, wo viele private und persönliche Geschichten zum Thema der Öffentlichkeit werden, muss man Generalisierungen unbedingt verhindern. Umgekehrt sollte die Skepsis, wenn man sie zur Grundlage der Rezeption macht, für alles gelten, Moralisches wie Unmoralisches. Aber ich würde die Skepsis gar nicht erst zur Grundlage der Rezeption machen. Denn dadurch gerät man in die ungemütliche Lage, ständig die vermeintliche Wahrheit beweisen zu müssen.
Wenn es eine Wahrheit oder Realität oder wie auch immer man das nennt, was man korrekt wiedergegeben wissen will, gibt, dann ist sie ganz gewiss nuanciert. Wahrheiten oder Lügen, oft gleichgesetzt mit richtig oder falsch – da bleibt normalerweise immer auch ein Interpretationsspielraum. Im Netz will man viel zu oft viel zu genau wissen, ständig ist man aufgefordert, eine Meinung preiszugeben, auch wenn man sie nicht hat. Dadurch werden selbst gut gemeinte, der Höflichkeit oder einfach das soziale Zusammenleben ermöglichende Lügen zu bös gemeinten Lügen, zu Lügen, die anderen schaden. Das konnte man bereits in der Roman-Dystopie „The Circle“ von Dave Eggers lernen: mit dem Slogan „Geheimnisse sind Lügen“, wurde darin für mehr Transparenz geworben. Aber das ist falsch. ●
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