top of page

Jahresrückblick: Was ich 2021 am liebsten gesehen & gelesen habe

Autorenbild: annekathrin kohoutannekathrin kohout
  1. „Followers“ von Mika Ninagawa 

„Followers“ ist die erste Dramaserie der japanischen Fotografin Mika Ninagawa und ästhetisch mit ihren Bildern vergleichbar: Extrem farbenfroh, verspielt, außerdem in ihrer Überdrehtheit überfordernd und ins Düstere kippend. 

Die Tokioter Kunstwelt der Gegenwart wird ins Visier genommen, insbesondere in ihren Verstrickungen von Kunst, Mode, Werbung und Sozialen Medien. Die Hauptdarstellerin ist Limi Nara, eine berühmte und erfolgreiche Modefotografin, die als selbstbewusste Frau ein unabhängiges Leben führt. Ebenso unabhängig ist ihr Wunsch nach einem Kind, wenngleich sie dafür einen Samenspender benötigt. Die sich schließlich ergebenden Schwierigkeiten der Vereinbarkeit von Kind und Karriere werden einfühlsam thematisiert.

Eine weitere Hauptfigur ist die junge Nachwuchsschauspielerin Natsume Hyakuta, die sowohl privat als auch beruflich viele Probleme hat. Als Limi aber eine Fotografie von ihr auf Instagram veröffentlicht, ändert sich ihr Leben schlagartig. An ihr wird die Rolle der Sozialen Medien für die Kunst, aber auch die Hinter- und Abgründe der Influencerkultur werden deutlich gemacht. 

Das sind nur zwei unter einer Reihe anderer bestechender Charaktere.

Die Serie ist etwas gewöhnungsbedürftig, aber es lohnt sich dranzubleiben – nicht nur wegen der besonderen Protagonist:innen, sondern auch wegen der Schauplätze, die teilweise einen sehr guten Einblick in die tatsächlichen Kunstsorte Tokios geben. U.a. mit den Bildern von ob.

  1. „Nevertheless“ von Kim Ga-ram

Ein wiederkehrendes Motiv in K-Dramen ist Talentlosigkeit in Hinblick auf Kunst und Kreativität sowie das Scheitern am Ausleben/Erschaffen von Individualität. Schon in der im letzten Jahr erschienen Serie „Do you like Brahms?“ hat eine nur mäßig begabte Violinistin die Hauptrolle eingenommen, die trotz ihrer Trauer und milden Verzweiflung angesichts fehlender ‚Genialität‘ nicht resigniert. So auch Na Bi, die Hauptfigur aus „Nevertheless“, eine Studentin an der Kunstakademie, die sich permanent mit ihren kreativeren, individuelleren, erfolgreicheren Kommiliton:innen konfrontiert sieht. Trotzdem resigniert sie nie und gerade weil sie sich ihrer Stärke und Individualität so gar nicht bewusst ist, handelt es sich um eine wahnsinnig glaubwürdige Protagonistin. Außerdem – und vordergründig – geht es um eine für K-Dramen überdurchschnittlich leidenschaftliche und sexuell spannungsgeladene Liebesbeziehung, von der man nie so genau weiß, ob sie toxisch ist oder befruchtend.

3. „Spitzenreiterinnen“ von Jovana Reisinger

Silvia Bovenschen schrieb einmal, das Kulturschicksal der Frauen sei in der Geschichte vom Wettlauf zwischen Igel und Hase abgebildet. Der Igel – der vorgegebene Entwurf – ist immer schon da. Sexismus, Körperzwänge, der Druck der Leistungsgesellschaft – Jovana Reisinger sucht keinen Ausweg aus dem manchmal sehr zwickmühlenhaften Feminismus. Das macht ihr Buch so besonders und trotzdem treffend, so vertraut und trotzdem erfrischend.

4. „Die Dekolonisierung Amerikas“ von Steffen Zillig

Dieses Comic kam mir zu schnell zu einem Ende – was als Kompliment zu verstehen ist. Steffen Zillig hat aus kleinteilig collagierten Versatzstücken alter und neuer Abenteuercomics die Geschichte über eine fiktive Zukunft entstehen lassen, in der sich die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika dazu entschließt, die zugewanderten Teile ihrer nun vollständig genetisch decodierten Bevölkerung zurück in die Welt zu schicken. Während etwa die afro-amerikanischen Rückwanderer in ihren Herkunftsländern aufgenommen werden, bleiben die Grenzen für die Euro-Amerikaner verschlossen, als diese auf Booten die französische Küste erreichen. 

Steffen Zillig spitzt bestehende Gegenwartsdiskurse in ihre Extreme zu und stellt eine hypersensibilisierte und hochtechnisierte Gesellschaft auf dem US-amerikanischen Kontinent einer auf dem europäischen Kontinent vorherrschenden geradezu ent-sensibilisierten und auf die individuellen Bedürfnisse und Lüste konzentrierten, sich von Regeln und Normen abgewandten sowie maßlosen Gesellschaft gegenüber. 

5. „Wendy. Master of Art“ (sowie „Wendy“ und „Wendy's Revenge“) von Walter Scott

Niemand versteht es besser, die Absurditäten der Kunstwelt – ihre Protagonist:innen und deren Probleme, ihre Werke, ihre Orte, ihre Begriffe und Gespräche sowie ihre Rezipient:innen – so pointiert zur Darstellung zu bringen als Walter Scott. Wirklich, niemand.

6. „Uncomfortably Happily“ von Hong Yeon-Sik 

Der Titel beschreibt die Grundstimmung der autobiografischen Graphic-Novel perfekt: Ein Paar zieht v.a. aus Geldgründen aufs Land – und hadert damit. Selten habe ich eine Beziehung in ihrer Komplexität psychologisch so fein ausgeleuchtet gesehen. Der Leitgedanke ist: Auch im Unbehaglichen, Unbequemen lässt sich das Glück immer wieder neu finden.

Die Zeichnungen sind pointiert-schlicht, Landschaftsbilder lassen viel Raum für eigene Gedanken und Interpretationen der dargestellten Situation.

7. „Squid Game“ von Hwang Dong-hyuk

Zugegeben habe ich es als brutal empfunden, dass zwei meiner liebsten Schauspieler – Gong Yoo und Wi Ha-jun – die meiste Zeit hinter einer Maske versteckt wurden. Beinahe wäre eine Netflix-Verschwörungstheorie daraus entstanden ––– aber das ist natürlich Quatsch… 

Es gibt bessere K-Dramen, aber die Wirkung von Squid-Game war schlicht beeindruckend. Zehntausende Gewerkschafter:innen haben in Anschluss an den Film in Squid-Game-Kostümen in Südkorea für Arbeitssicherheit gestreikt. Auch die vielseitige Rezeption in den Sozialen Medien hat mich noch lange beschäftigt. Genauso wie die Rolle des US-amerikanischen Unternehmens Netflix für die Selbst- und Fremdwahrnehmung der südkoreanischen Gesellschaft.

8. „Inside“ von Bo Burnham

In meiner 〰️Bubble〰️ gab es vereinzelt Kritik für die von Bo Burnham komplett allein in seinem Wohnzimmer während des Lockdowns geschriebene, gedrehte und performte Netflix-Show. Sophie Passmann hat sich auf Twitter und Instagram naserümpfend über den ‚privilegierten alten weißen Mann‘ echauffiert, der nun wirklich keinen Grund zum Jammern habe. Ich vermute, es war eine Reaktion darauf, dass Burnham sich selbst in seiner Show als ein solcher alter weißer Mann (für den es jetzt ungemütlich wird) reflektiert, was zugegeben durchaus als Koketterie interpretiert werden kann. 

Mir persönlich erschien es treffend und angemessen, wie er ein Dilemma beschrieben hat, das viele Menschen derzeit umtreiben dürfte: Dass es einem innerhalb dieser Corona-Pandemie doch eigentlich gut gehen müsste – im Vergleich zu vielen anderen in deutlich schlechteren Lebenssituationen. Dass man zwar ahnt, eventuell kein Recht zur Klage zu haben, aber dennoch dem Bedürfnis nachgeht, der eigenen Frustration, Angst und Traurigkeit Ausdruck zu verleihen. Traurige Comedy kannte ich vorher nicht, aber es ist vermutlich die Comedy der Stunde: Ein adäquater Umgang mit der Stimmung im Lockdown und den Konsequenzen von Social Distancing, der damit einhergehenden zunehmenden Verängstigung, Isolation und Unsicherheit.

9. „Wo bin ich? Lektionen aus dem Lockdown“ von Bruno Latour

Ich bin sehr müde vom Feiern oder Hassen bestimmter Positionen, vom Anhängen oder Absprechen bestimmter Fähigkeiten/Einschätzungen. Deshalb bin ich Bruno Latour dankbar, da er sich einer Instrumentalisierung von irgendeinem der vielbeschworenen „Pole“ von vornherein entzieht (hoffentlich & bitte). Anders, als viele andere Philosoph:innen.

Das Aufwachen von Gregor Samsa als Ungeziefer in Kafkas „Die Verwandlung“ wird zur Allegorie auf das plötzliche Aufwachen mit den Folgen von Pandemie und Klimawandel: „Du spürst durchaus, dass es sich nicht um eine Krise handelt, sondern um eine Mutation: Du hast nicht mehr denselben Körper und bewegst dich nicht mehr in derselben Welt wie deine Eltern. Zurzeit stößt uns dasselbe zu wie Gregor, und wir sind entsetzt über die definitive Einsperrung.“

„Die frühere Freiheit ist verloren“ – das wird durchaus mit einer gewissen Sehnsucht betrauert –, aber „dafür eine andere gewonnen.“ Er zeigt, dass sich trotz dieser heftigen und (für die meisten) unerwarteten Verwandlung Potentiale erkennen lassen, neue Räume, neue Fortbewegungsarten zu entdecken sind.

Meiner Einschätzung nach etwas zu kritisch gegenüber den digitalen Medien (in der er die wiederum nicht unberechtigte Gefahr sieht, von der Erkenntnis in die „Träumerei“ zu geraten) und ihre Chancen deshalb verkennend, möchte ich trotzdem eine ernsthafte Leseempfehlung aussprechen.

10. „Aufzeichnungen eines Serienmörders“ von Kim Young-ha 

Dieses Büchlein ist skurril (es geht um einen Serienmörder in Rente, der Alzheimer bekommt), traurig-schockierend (habe selten so Anschauliches über das Vergessen gelesen) und gleichzeitig mitmenschlich, liebevoll und witzig. Vieles von dem, was ich auch an K-Dramen so schätze, findet sich hier wieder: zum Beispiel die Schlichtheit der Beschreibung eines so schwierigen und komplexen Themas wie Demenz.

Was das Genre betrifft, entzieht sich das Buch einer genaueren Bestimmung (allerdings ohne dadurch unverständlich oder gar unlesbar zu werden!): Es ist ein Bericht – die aufgezeichneten Erinnerungsnotizen des Serienmörders –, in der Summe eine Erzählung, aber es gibt auch diverse philosophische Einschübe über Nietzsche, Zeit, Mord und Demenz. Ein neues Lieblingsbuch.

 
 
 

Comments


bottom of page