Eine Zeitlang habe ich, wie sehr viele andere und nicht nur Hipster, alte Privatfotos gesammelt. Ich habe ganze Alben, aber auch viele lose Bilder auf Flohmärkten oder in An- und Verkaufsläden ergattert und sie dann nach Motiven kategorisiert: Menschen, die mit ihren Autos posieren, strahlend den neuen Fernseher präsentieren, „künstlerisch“ den eigenen Schatten einfangen oder zufrieden am gedeckten Feiertagstisch sitzen. In den 1980er und 1990er Jahren, als die analoge Fotografie sehr günstig wurde und man anfing, jede Alltagsbanalität einzufangen – und das möglichst authentisch und situativ –, tauchte vemehrt ein weiteres Motiv auf: Menschen, die sich Gegenstände oder die eigene Hand vors Gesicht halten, weil sie nicht fotografiert werden wollen, zumindest nicht auf diese unvorbereitete Art und Weise. (Sicherlich gibt es mittlerweile erst recht unzählige gelöschte digitale Bilder, auf denen einzelne Personen sich reflexartig etwas vors Gesicht schieben, weil sie sich von einer Kamera ertappt fühlen.)
Dieser Bildtyp war mir immer äußerst sympathisch, zeugt er doch von einer beinahe rührenden Verlegenheit der Abgebildeten. Auf solchen Fotos sieht man Menschen, die sich vor der Linse genieren, und das heißt: davor zurückschrecken, private oder sogar intime Momente ihres Alltags einzufangen und ihnen damit mehr Bedeutung als nötig zukommen zu lassen. Man sieht also bescheidene Menschen, die sich nicht allzu wichtig nehmen und am liebsten unsichtbar machen würden. Freilich kann das auch schnell in Koketterie umschlagen.
Nicht fotografiert werden zu wollen, ist heute für viele kaum noch denkbar. Es ist wichtig, sich viel und oft zu fotografieren und dieses Bild dann auch in der digitalen Öffentlichkeit zu teilen: um präsent zu sein und an der (digitalen) Gesellschaft zu partizipieren, wenigstens durch Anwesenheit. Eine Person ohne Profilbild erscheint mir zumindest auf merkwürdige Weise abwesend zu sein (zumindest auf Instagram). Überhaupt dürfte kaum noch jemand bestreiten, dass Selbstinszenierung in den Sozialen Netzwerken beinahe unabdinglich ist, sogar strukturell eingefordert wird: Erstens sind die gegenwärtig bedeutendsten Sozialen Medien – allen voran Instagram – visuelle Medien, weshalb man mit Bildern und Videos in Erscheinung treten muss, und zweitens muss permanent Content kreiert werden, wenn man nicht in Vergessenheit geraten, nicht von den Tiefen der Newsfeeds verschluckt werden möchte. Das bedeutet, es werden permanent neue Inhalte – genauer: Bildmotive – benötigt, und was läge da näher, als sich selbst und (zumindest die fotogenen) Momente des Alltags festzuhalten.
Daher entstehen zum Beispiel Selfies oft aus einer Notwendigkeit heraus, außerdem erhält man dafür üblicherweise deutlich mehr Likes als für andere Bilder. Angesichts der fortschreitenden Digitalisierung und der Etablierung des digitalen öffentlichen Raums als wichtiges soziales Feld muss man sich also über kurz oder lang an das Fotgrafiertwerden bzw. Sichselbstfotografieren gewöhnen. Vielen fällt das nach wie vor schwer, sie haben Hemmungen, sich vor der Kamera „natürlich“ oder „authentisch“ zu bewegen, einerseits weil man eitel ist („Sehe ich auch gut aus?“), andererseits weil es (zumindest hierzulande) verpönt ist, gar als narzisstisch gilt, selbstbewusst vor der Kamera zu posieren.
Nun haben die sozialen Plattformen selbst bereits einige Werkzeuge bereitgestellt, mit denen diese Hemmschwellen überwunden werden können: allen voran Filter und Masken. Mit ihnen kann man sich präsent machen, ohne sich zwangsläufig auch zu zeigen. Ja, Filter und Masken verstecken das eigentliche Gesicht und sind dabei fotogen – sei es durch Überlagerung oder Verformung. Zugleich fügen sie der Selbstinszenierung ein ironisches Augenzwinkern hinzu, denn natürlich sind die lustigen Häschenohren nicht ernst gemeint, nur ein kleiner Scherz, ein kleiner Content unter anderen Contents. Mein Lieblingsfilter ist deshalb von Off-White, er flankiert das Gesicht mit Gänsefüßchen und setzt das Selfie damit distanziert-ironisch in Anführungszeichen.
Für den japanischen Markt hat das Label, das allgemein für seine postironischen Anführungszeichen bekannt ist, auch einen Mundschutz gestaltet: „Mask“. Längst ist der Mundschutz in Japan nicht mehr nur ein Gebrauchsgegenstand, sondern auch Luxusobjekt und Modeaccessoire. Man trägt ihn zudem nicht nur aus Schutz vor Infektionen oder aus Höflichkeit, andere nicht anzustecken, sondern auch um sich von der Öffentlichkeit einmal zurückzuziehen. Mit der Maske signalisiert man, nicht so gern angesprochen werden zu wollen. Man trägt sie, wenn man einmal in der Masse verschwinden, nicht weiter auffallen möchte – ohne dabei gleich den öffentlich Raum gänzlich meiden zu müssen. Das kann verschiedene Gründe haben, Pickel im Gesicht oder schlechte Laune.
War der Mundschutz, etwas kesser „Maske“ oder „Gesichtsmaske“ genannt, hierzulande lange negativ besetzt, ausschließlich mit Krankenhäusern oder Epidemien assoziiert, gewinnt er mittlerweile und gewiss im Zuge der Popularität digitaler Masken auch in der westlichen Welt als Modeaccessoire an Popularität.
Dass für die Etablierung solcher Gesichtsmasken aber noch andere Bezüge notwendig sind, kann man gut an der Maske nachvollziehen, die Billie Eilish bei der Eröffnung ihrer multimedialen und superimmersiven Ausstellung „The Billie Eilish Experience“ trug, die anlässlich der Release ihres neuen Albums „When we all fall asleep, where do we go?“ eröffnet wurde. Der asiatische Einfluss ihrer Louis-Vuitton-Maske sei durch die Nähe Eilishs zur Mangakultur belegt, außerdem ihrer Kooperation mit dem Louis-Vuitton-Siegerkünstler Takashi Murakami, der unter anderem eine riesige Billie-Eilish-Skulptur für die Ausstellung angefertigt hat.
Größeren Einfluss auf das neue Trendaccessoire nimmt aber ein anderes Funktionskleidungsstück: die Sturmmaske. Im letzten Jahr gab es eine ganze Reihe von sogenannten Balaclavas und Variationen davon auf dem Laufsteg: Besonders populär wurden die von Calvin Klein und Gucci. Sosehr die kriegerische Anmutung durch pastellene oder grelle Farben abgefedert wird, bleibt doch auch genug Rebellisches zurück, damit man sich mit diesem Accessoire wie eine Aktivistin oder ein Aktivist fühlt. Wie ein M itglied von Pussy Riot, nur etwas zivilisierter. Außerdem inszeniert man sich als gesellschaftspolitisch, greift man doch das Lebensgefühl auf, in gefährlichen Zeiten zu leben. Zudem wehrt die Maske Blicke gezielt ab und wirkt deshalb reichlich uneitel.
Ein weiterer Einfluss der modischen Gesichtsmasken kann am besten an der Herbst-Winterkollektion 2018 von Marine Serre nachempfunden werden. Ihre Balaclavas sind mit Mondsicheln bedruckt und mit farbigen Seidentüchern versehen, die lang am Körper hinabfallen. Unbestreitbar, dass das unweigerlich, wenn auch vage an arabische Kopfbedeckungen und -Verhüllungen erinnert, zum Beispiel an einen Hidschāb oder eine Niqab.
Nehme man nun versuchsweise an, dass der Modetrend sich durchsetzt. Sosehr – nicht zuletzt durch die Body Positivity-Bewegung forciert – der Körper in den Mittelpunkt von Debatten um Sichtbarkeit gerückt ist und damit in der westlichen Welt freizügiger denn je auf Instagram und in anderen sozialen Netzwerken in Erscheinung tritt, so wenig ist das Gesicht ein Austragungsort von Vielfalt und Authentizität. Nicht nur Filter und Masken, auch die Trends zum Contouring und Permanent-Make-up zeugen davon, das Gesicht von der Öffentlichkeit abzuschirmen zu wollen, es zwar nicht mit Stoff, wohl aber mit Farbe zu verdecken. Auch der Erfolg von Tuchmasken für das Gesicht, wahlweise sogar mit Tierbemalung, lässt sich nur damit begründen, dass diese besonders ‚instagramable‘ sind. Ich habe diese Entwicklung eingangs als Notwendigkeit geschildert, als Folge der erodierenden Privatsphäre in einer zunehmend öffentlichen digitalen Gesellschaft. Die Gesichtsmaske ist daher nicht nur ein intelligentes High-Fashion-Phänomen, sondern hat durchaus das Potential, auch massenindustriell vertrieben zu werden. Solche Masken bedürfen jedoch, und das mag ein Hindernis sein, eines anspruchsvollen Stylings, wenn man damit richtig gut (und nicht nur verlegen) aussehen will.
Das assoziative Zusammenspiel von Sturmhaube und – sagen wir – Niqab wird die Kritik an religiöser Mode vielleicht etwas abfedern, weil sie als Referenz auch tragbar ist, ohne religiös zu sein. Aber gesetzt den Fall, es gebe einen Trend zur Maskierung: Ich höre mindestens genauso laute Stimmen, die über Islamisierung klagen („Wir haben es doch gewusst!“), über den Verlust des Anblicks schöner (unbekleideter) Frauen, über das Etwas-zu-verbergen-Haben. Ressentiments würden demnach noch geschürt werden, auch weil das Zusammenspiel von arabischer Kopfbedeckung und Sturmhaube, die ohnehin schon mit Hidschāb, Niqab oder Burka verbundenen Assoziationen (primitiv-aggressive Gesellschaft, Terrorismus), noch bestärken würde. Man sieht sie schon überall aus dem Boden schießen: alte und neue Verschwörungstheorien.
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