Das beliebteste Detail der Kunstgeschichte feiert jedes Jahr zu Weihnachten sein Comeback: Raffaels Engel. Und weil ich viele Jahre in Dresden gewohnt habe, weiß ich, dass sie dort nicht nur zu Hause sind, sondern auch die Evergreens im Stadttourismus. Fängt man in Dresden an, nach den Putten Ausschau zu halten, begegnen sie einem schlichtweg überall. Nicht nur auf Postkarten: Sie werben für Biokäse, Schuhcreme oder Medikamente, für Süßes wie für Alkoholisches. Ja, man könnte sogar behaupten, dass diese beiden Engel ein frühes und analoges Mem sind. Denn bereits im 19. Jahrhundert schmückten die Putten so ziemlich alles, was eine Illustration zuließ: von Spruchkarten bis zu sogenannten „Ofenrohrbildern“, die im Sommer in die Löcher für den Anschluss gelegt wurden. Ersichtlich wird das aus der Rezeptionsgeschichte von Raffael Santis „Sixtinischer Madonna“, der die Engel entstammen.
Diese Rezeptionsgeschichte ist aus zweierlei Hinsicht interessant. Zum einen, weil sich bei keinem anderen Bild der Rollenwechsel von einem kirchlichen Kultbild zu einem musealen Kunstwerk so explizit verfolgen lässt. Andererseits weil es zwei voneinander nahezu völlig unabhängige Rezeptionsstränge besitzt. Während die Madonna mit Kind mehrheitlich auf einen intellektuellen und elitären Resonanzraum stieß – nachdem sie Johann Joachim Winckelmann in seinen „Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst“ 1756 schlagartig berühmt machte –, erlebten die beiden Engel als Detail und völlig losgelöst vom Gesamtbild ihre popkulturelle Rezeption. Eine einzigartige Geschichte.
Die Karriere von Raffaels Engeln begann, nachdem der Maler August von der Embde sie erstmalig separat von dem restlichen Bild kopierte. Das war 1803, und zu dieser Zeit gab es einen regelrechten Kopisten-Boom, dem die Museen Einheit zu gebieten versuchten. So kam es zur ersten eigenständigen Karriere des Details in der Kunst. Denn die Erlaubnis für eine ganze Kopie war schwer zu erhalten und das Kopieren aufwendig. Teilkopien, die lediglich Details aus einem Werk reproduzierten, waren hingegen schnell zu bewerkstelligen – vor allem aber eigneten sie sich besser zum Verkauf. Käufer konnten sich Lieblingsmotive auswählen und frei vom ursprünglichen, oftmals religiösen, Kontext taugte sie für allerlei Verwendungszwecke.
Dass ich damit keinesfalls allein bin, wird spätestens deutlich, wenn man durch die Bilder scrollt, die etwa unter dem Hashtag der jeweiligen Museen aufgerufen werden. Da sieht man selten ganze Ansichten von bedeutenden Werken, etwa von Lukas Cranach, Rembrandt oder Picasso. Da sieht man Details! Ein Baby, das an den Eutern einer Ziege saugt, oder eine irre Flechtfrisur. Ganz zu schweigen von den abgedrehten Szenen, die in den Werken von Hieronymus Boschgefunden und anschließend gepostet werden. Überhaupt sind die Werke Boschs eine unerschöpfliche Quelle für Absurditäten und Entdeckungen. Unter den zahlreichen Einträgen, die man mit der Eingabe seines Namens auf Instagram, Tumblr und Pinterest findet, sind daher nicht zufällig meistens nur Details seiner Bilder.