Der Künstler als Streber

Dieser Beitrag wurde zuerst auf der ehemaligen Website von art – Das Kunstmagazin veröffentlicht. 

Sie ist das Gegenteil des genialischen Künstleregos: Taryn Simon ist selbstbeherrscht, smart und fleißig. Und ein ideales Beispiel für den derzeit erfolgreichsten Künstlertypus: den Streber. Warum genau der heute als cool gilt, erklärt Autorin Annekathrin Kohout.

Taryn Simon lächelt bescheiden und überzeugt zugleich, während sie durch ihre aktuelle Ausstellung mit dem langen Titel „A soldier is taught to bayonet the enemy and not some undefined abstraction“ im Dresdner Albertinum führt. Sie hat etwas Mustergültiges an sich. Sie ist sowohl smart als auch ernsthaft, ebenso zugänglich wie distanziert. Ihre Statur ist zierlich und dezent, ihre Gestik dagegen impulsiv und bestimmend. Und wenn sie von ihren Arbeiten spricht, ist sie sehr gewissenhaft. Ihre Themen erinnern an die Schauplätze von Thriller-Romanen oder Action-Filmen: ein altes Bildarchiv in Manhattan, die Kunstsammlung der C.I.A, der Ort, an dem nuklearer Müll gespeichert wird, die Bundeskontrollstelle der US-Zollbehörde oder ein Ornithologe namens James Bond.

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Sie beginnt, über ihre erste Arbeit zu sprechen. Wir stehen im Salzgassenflügel des Albertinums, an den Wänden hängen großformatige gerahmte Drucke, die auf den ersten Blick wie Collagen aussehen. Auf ihnen sind jeweils Bilder gleichen Motivs zusammengestellt. Sie erinnern mich an Bildersammlungen auf Tumblr oder Pinterest. Dann beginnt Simon zu erzählen: Das besagte Werk, „The Picture Collection“ von 2013, geht auf die gleichnamige Bildersammlung der Mid-Manhattan Library zurück, die 1915 gegründet wurde und etwa 1,29 Millionen Bilder in Form von Drucken, Postkarten oder ausgeschnittenen Abbildungen aus Büchern und Zeitschriften umfasst. Auch Andy Warhol habe die Sammlung häufig genutzt. Sie umfasst des weiteren 12.000 Ordner, die einer jeweiligen Kategorie zugeordnet sind. Darunter sind sowohl Themen wie „Schwimmbecken“ und „Katzen“, als auch „Israel“ und „Palästina“ oder einfach „Feind“ vertreten. Der Suchbegriff „Feind“ war im Jahr 1942 besonders beliebt, da den Soldaten dieser Zeit mit Bildern aus dem Archiv beigebracht werden sollte, das Aussehen der Gegner zu erkennen – damit diese nicht nur irgendeine Abstraktion bajonettierten. Das kann man, so Simon, dem Jahresbericht der Picture Collection entnehmen, wie auch das Zitat für den Ausstellungstitel.

Aus dieser Geschichte entstand eine zweiteilige Arbeit. Sie besteht zum einen aus der Reihe eigens zusammengestellter Bildmotive, die Taryn Simon in den Ordnern des Archives fand, konstellierte, fotografierte, aufwendig produzierte und nun in großem Rahmen mit einem dominanten Aufhängesystem präsentiert. Zum anderen aus einer fast neun Meter langen Vitrineninstallation, in der ausgewählte Fundstücke der Archivgeschichte zu sehen sind. Darunter Bildanfragen an die Picture Collection aus den vierziger Jahren. Diese wurden erstaunlicherweise nicht schriftlich, sondern mittels einer Zeichnung eingereicht. Eine schöne Anekdote.

Was auf den ersten Blick aussieht wie eine simple Collage, entpuppt sich als ein echter Steinbruch für Theorien und Interpretationen. Anhand von „The Picture Collection“ ließe sich zum Beispiel über die Funktionen des Archivs oder die Mechanismen der Wahrnehmung diskutieren. Darüber, wie wir durch Medien Wirklichkeit konstruieren, wie Stereotypen und Stigmatisierungen entstehen. Oder über die Machtausübung mit und durch die Instrumentalisierung von Bildern. Über die potentiellen Wurzeln von Google, die Beliebigkeit von Algorithmen und ja, man könnte sagen, über die Frage, wie alles mit allem zusammenhängt. Taryn Simon ist eine begnadete Geschichtenerzählerin. Und auch Kunsthistoriker kommen auf ihre Kosten: Natürlich erinnern die Tableaus auch an den Bildatlas von Gerhard Richter oder den Mnemosyne-Atlas von Aby Warburg.

Es ist also allen voran eine Kunst, über die sich gut schreiben lässt. Eine Kunst, mithilfe der man Geschichten und Anekdoten erzählen kann. Eine Kunst, die man sich in den unterschiedlichsten Themenausstellungen und in zahlreichen Power-Point-Präsentationen zu Vorträgen über Medientheorie und Bildkulturen vor dem und im Internetzeitalter vorstellen kann. Nicht zu reden von den aufregenden Führungen durch die Ausstellungen von Simon, bei denen sicher nicht wenige Besucher die Arbeiten zum Anlass nehmen werden, Verschwörungstheorien zu entwickeln.

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Über die Gagosian Galerie erhält man eine Liste aller Publikationen und Artikel, in denen ihre Arbeiten besprochen werden. Simon ist 41 Jahre alt und die Liste, deren ältester Eintrag auf 1999 datiert ist, ist bisher 23 Seiten lang und eng bedruckt. Das ist kein Zufall.

Simon ist im positiven Sinne streberhaft. Alles ist durchdacht und genau geplant.

Taryn Simon hat an einer der ältesten und renommiertesten Universitäten in den USA, der Brown University, studiert. Ihre Arbeiten entsprechen dieser Biografie, sind unglaublich reich an Informationen und Wissen. Der Recherche-Aufwand ist jedes Mal enorm hoch, wird aber – nebenbei bemerkt – von Simon nicht mit einer Silbe erwähnt. Vielmehr ist er selbstverständlich und notwendig für ihre Kunst. Denn sie ist im positiven Sinne streberhaft. Alles ist durchdacht und genau geplant. Nichts überlässt Simon dem Zufall oder der Intuition. Für jedes Detail, von der Entstehung der Arbeit über die Präsentation der Werke bis zur Größe der Wandtexte, gibt es eine gute Erklärung.

Kunst ist hier nicht länger das „schmutzige Heilige“, sondern „reine Vernunft“ geworden – um es mit den Worten des Philosophen Robert Pfaller zu sagen. Taryn Simon inszeniert sich nicht als Genie. Ihre Kunst ist keine, an die man glauben muss. Sie ist so klar wie nachvollziehbar und bedarf weder einer Aura noch eines Rätselcharakters, um interessant zu sein.

Am Beispiel ihrer Arbeit „Field Guide to Birds of the West Indies“, in der es kurz gesagt um den Zusammenhang zwischen dem realen und fiktiven James Bond geht, erklärt Simon, welch hoher Konzentration ihre Arbeit bedarf. Der Regisseur Ian Fleming – selbst aktiver Vogelbeobachter – adaptierte den Namen eines amerikanischen Ornithologen für die Hauptfigur seiner Actionfilme. Um diesen Bezug herzustellen, recherchierte Simon sowohl die Publikationen des realen James Bond als auch den Bezug zu Vögeln in der Welt des fiktiven Namensvetters. Hierfür durchsuchte sie sämtliche Filme nach den gefiederten Tieren. Sie erzählt, wie schwer es war, sich nicht von der Action, den Emotionen – der Narration des Filmes – ablenken zu lassen, sondern immer fokussiert zu bleiben. Dazu braucht man Konzentration, Willensstärke – und ich würde sagen: auch ein wenig Strebertum.

Die popkulturell positiv umgedeutete Figur des Strebers ist übrigens der Nerd – in Zeiten von Mark Zuckerberg ein sehr erfolgreicher Charakter. Ja, nehmen wir einmal diese Perspektive ein, dann erscheint das Durchsuchen aller James Bond Filme auf Vögel, um Screenshots von ihnen zu machen, tatsächlich ein bisschen nerdig.

Taryn Simon ist das Gegenteil des längst überkommenen Klischees eines genialischen, expressiven Künstlers. Ihre Fotografien, Filme und Installationen sind eher durch Innovation als durch Intuition gekennzeichnet. Sie tritt als eine intelligente Frau auf, die ein überdurchschnittliches Maß an Leidenschaft für technologische, wissenschaftliche oder philosophische Fragen besitzt, zudem ein Interesse an medialer Popkultur. Ihre Arbeiten können durchaus unter dem Label „artistic research“ geführt werden. Denn sie basieren in gewisser Weise auf den Ergebnissen von Forschung, zum Beispiel auf Archiven, ahmen strukturell die Methoden der Wissenschaft nach, etwa indem sie alternative Lesearten und Ordnungssysteme erschaffen, und sie führen am Ende nicht selten auch tatsächlich zu konkreten Erkenntnissen.

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Für die Arbeit „Image Atlas“ hat sie mit dem Programmierer und Netz-Aktivisten Aaron Schwartz zusammengearbeitet. Die Arbeit entstand 2012, ein Jahr vor dessen Suizid. Simon und Schwartz entwickelten eine webbasierte Installation, die es ermöglicht, gleichzeitig die Bildergebnisse selbst gewählter Suchbegriffe in bis zu 57 Ländern zu sehen. Die darin in Erscheinung tretenden Unterschiede und Gemeinsamkeiten stellen nicht nur die Neutralität von Algorithmen infrage, sondern werden vor allem zu einem hilfreichen Erkenntnisinstrument.

Die Figur des Nerds gewinnt seit Jahren an Glamour

Bei der Führung möchte Taryn Simon nicht aufgezeichnet werden. Vielleicht, weil sie dann zu wenig Kontrolle über Qualität und Inhalt der Aufnahmen besitzt. Immer wieder fragt sie nach, ob denn wirklich niemand aufnehme. Sie ist selbstbeherrscht und perfektionistisch. Ich erinnere mich gut an einen Ausstellungsrundgang mit Werner Büttner vor drei Jahren. Größer kann ein Unterschied kaum sein: Bei Büttner glaubte man noch den Alkohol der vorigen Nacht zu riechen, er lästerte politisch unkorrekt über weibliche Malerinnen, winkte exzentrisch ganze Bildserien ab, einfach, weil er keine Lust hatte, darüber zu reden. Das war einmal cool und provokant, in den Augen mancher vielleicht sogar mondän. Aber ist es das noch immer?

Tatsächlich gewinnt die Figur des Nerds seit einigen Jahren immer mehr an Coolness und Glamour, man denke nur an die erfolgreiche Sitcom „The Big Bang Theorie“. Zwar scheint sich Simon selbst nicht unmittelbar mit bestimmten Rollenmustern zu identifizieren oder sich bewusst in Szene zu setzen. Doch ihr Erfolg dürfte auch auf die Popularität von Figuren wie der des Nerds zurückzuführen sein, Charakteren, die smart, strebsam und kontrolliert sind, und deren Leidenschaft vor allem in Gewissenhaftigkeit ihren Ausdruck findet.

Die Arbeiten von Simon sind in den größten Sammlungen der Welt vertreten. Sie hat bedeutende Einzelausstellungen überall auf der Welt – erfolgreicher kann man als Künstlerin ihres Alters kaum sein. Auch dieser Erfolg passt zu ihrer Kunst, die streberhaft ist, und zu ihrer Figur, die an die neuerliche Strahlkraft des Nerds erinnert. Im Albertinum, wo sieben Arbeiten Simons aus den Jahren 2006 bis 2015 präsentiert werden, kann man derzeit viel über die gegenwärtigen Ansprüche an Kunst lernen.

Die Ausstellung im Albertinum wurde aus dem Rudolfinum in Prag übernommen und erweitert. Insgesamt werden sieben Arbeiten aus den Jahren 2006-2015 präsentiert. Damit handelt es sich auch um den ersten größeren Überblick ihres Schaffens in Deutschland.

4 Antworten zu „Der Künstler als Streber”.

  1. Liebe Annekathrin,

    ich verstehe die Argumentation in Deinem Text nicht. Wenn man mal „Streberei“ grob als übertriebene Anpassungsneigung an bestehende Normen definieren will, so bleibt mir unklar, aufgrund welcher Fakten Du den Vorwurf gegenüber Frau Simon konstruierst.

    Sie hat etwas Mustergültiges an sich. Sie ist sowohl smart als auch ernsthaft, ebenso zugänglich wie distanziert. Ihre Statur ist zierlich und dezent, ihre Gestik dagegen impulsiv und bestimmend. Und wenn sie von ihren Arbeiten spricht, ist sie sehr gewissenhaft.

    Wenn das Deine Argumentation sein soll, so kann ich darin noch keine Streberei erkennen. Dazu müsstest Du deutlicher herausarbeiten, wer welche Ansprüche stellt und auf welche Weise die Künstlerin sich übermässig an sie anpasst.

    Simon ist das Gegenteil des längst überkommenen Klischees eines genialischen, expressiven Künstlers.

    Sollten wir das nicht eher begrüssen? Generell finde ich es positiv, wenn Künstler ihre eigene Arbeit selbst erklären und vertreten können. Gefühlte 99% von ihnen können oder wollen das nicht. Als Anregung zur eigenen Nachforschung empfehle ich auf einer beliebigen Künstler-Homepage die Rubrik „Texte“ aufzurufen. Ich hab außer allgemeinem Blabla dort noch nie eigene Texte des Künstlers gefunden.

    Herzliche Grüße
    Stefan

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    1. Lieber Stefan,
      vielen Dank für Deine Reaktion. Tatsächlich ist mein Text gar nicht als negative Einschätzung von Taryn Simon gemeint, es tut mir sehr leid, dass das offensichtlich nicht daraus hervorgeht. Der Textanfang sollte ein Stimmungsbild sein. Und auch das ist positiv gemeint.
      Ich begrüße das Streberhafte genauso wie Du – daher hänge ich an die Figur des Strebers, die zugegeben kulturell eher negativ codiert ist, die des Nerds zur Beschreibung an – die in gewisser Weise eine positive Umcodierung des Strebers ist.

      Ich finde es auch positiv, wenn Künstler über ihre Arbeiten sprechen können, keine Frage! Deshalb schreibe ich ja auch: „Simon ist im positiven Sinne streberhaft. “

      Beste Grüße
      Annekathrin

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  2. Liebe Annekathrin,
    so wird mir Dein Anliegen deutlicher. Vielleicht wäre ja ‚Ambition‘ ein etwas neutralerer Begriff?

    Herzliche Grüße
    Stefan

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  3. […] Der Künstler als Streber – Ausstellung von Taryn Simon in Dresden, vom 7. November 2016. ☞ Zum Nachlesen […]

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